Tagebuch

Wääck! In der 1. Klasse sitzt ein Stinker

Mit Freuden bin ich heute aufgestanden. Endlich er ist da, der Tag, auf den ich seit gefühlten Monaten warte. Ich fahre nach Hamburg.

Um 6.58 Uhr fährt der Zug aus dem Klosterdorf nach Zürich. Ich löste 1. Klasse. Logisch, ich gönn’ mir ja sonst nichts. Und es ist interessant. Es ist immer interessant im Zug, meine Liebe.

Das Abteil fast voll und alle in schwarz. Grauslich. Und ich? Ich springe aus dem Rahmen. Bunt, fröhlich halt. Klar, ich muss nicht in den Stollen, sondern mache mir ein paar schöne Tage in der Hansestadt an der Elbe.

Mir vis-à-vis sitzt ein älterer Mann, Ende 50, gross, schlank, gut aussehend. Wobei das so eine Sache ist mit «gut aussehend». Du weisst wie ich es meine, gäll? Was mir gefällt, muss dir nicht gefallen. «Ansichtssache», sagst du immer.

Rechts von mir sitzt eine junge Frau. 20-jährig könnte hinkommen. Ist sie hübsch? Tja, das siehst du den jungen Dinger heute kaum noch an. Das Gesicht dick mit Make-up vollgekleistert. Oh Gott, hoffentlich hat die einen Spachtel zu Hause. Der Vis-à-vis-Mann steht in Thalwil auf, zieht die Jacke an, nimmt Koffer und Rucksack. Geht.

Christine, weisst du, was das Tussi zu mir sagt? Nein, natürlich nicht. «Läck, der hat einen Knackarsch. Und das in diesem Alter.» Ich war geschockt. Du und ich, mit 20 Jahren, haben wir doch unsereins hinterher geguckt und sicher nicht so alten Säcken, wie wir zu den älteren Herren sagten.

Kurz vor acht Uhr bin ich umgestiegen. Sitze jetzt im Zug. Zürich–Hamburg.

Nervig. Hässlich, dieses umsteigen mit Sack und Pack.

Toll, ich habe die Arschkarte gezogen. Der Zugreisende direkt vor mir, igitt, stinkt der. Ekelhaft. Frag’ nicht. Es gruset mich, darf nicht daran denken. Kaputtes Hemd, schmuddelig anzugucken. Ich bin neugierig. Extrem neugierig. Du kennst mich und weisst genau, was jetzt kommt. Aufstehen, herumlaufen, alles genau unter die Lupe nehmen. Total ungepflegt und 1. Klasse fahren. Passt.

Ah, ich bin gemein, ich weiss.

Ich vertreibe mir die Zeit und studiere die Fahrgäste. Kann ja schlecht stundenlang Hörbücher lose & lisme. So viele Socken brauche ich nicht, und du willst ja keine, meine Liebe. Der Kratzfaktor, sagst du. Dabei kratzen meine Socken nicht. Egal. Meine Augen bleiben hängen bei der Frau mit eBook. Ich muss grinsen. Martin, du erinnerst dich an ihn, gäll, Christine. Also dieser Martin hat zu mir gesagt: «… eBooks sind nicht sexy.» Tja, an das muss ich die ganze Zeit denken. Und da fragt mich die eBook-Leserin: «Warum lachen Sie mich so an?» Oh Gott, das war mir unangenehm. Soll ich antworten, ja oder nein? Ich höre mich sagen: «Bücher sind sexy, eBooks nicht.» Die Frau guckt mich schockiert an. Zügig sage ich «… das sagt ein Freund.» Wobei sich das nicht wirklich besser macht.

In den nächsten Stunden höre ich ein Buch und schaue aus dem Fenster. Der Zug hält. Leute steigen hastig aus. Andere steigen hastig ein. Ein Gewusel. Die Neuen suchen gestresst einen nicht reservierten Platz. Glück ist, wenn das Gepäck nahe über dem Kopf in der Ablage Platz findet. Angenehm, wer einen Platz hat wie ich, in einem Ruhewagen. Keine Frauen, Männer, die ständig in ihr Handy schreien und alle mithören können, ja, mithören müssen. Einfach gemütlich. Wären da nicht ständig diese Blicke von der eBook-Leserin. Die schaut böse zu mir. Guck ich sie genauer an, war es gemein von mir. Sie ist alles andere als ein Model, eher eine Roseanne. Christine, erinnerst du dich an Roseanne? Die Serie lief in den 90er-Jahren auf ProSieben.

… wie schön, unterwegs zu sein und dir zu schreiben …

 

 

 

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14. April 2017

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