Uff, MaBelle, wenn du wüsstest, was mir durch meinen Kopf trolet? Schockiert wärst du, bestimmt. Ständig frag ich mich: Ist es Dasselbe, ein Kind zu verlieren wie seine Mutter? Gibt es Unterschiede – und wenn ja, welche? Als hätte ich keine anderen Probleme. Noch wichtiger: Wer ausser mir macht sich Gedanken darüber? Niemand. Sind ja (fast) alles normale Menschen. Tot ist tot. Egal, wens trifft.
Mir ist bewusst, diese Fragerei bringt nichts. Ich schaff es nicht, dieses Thema aus dem Kopf zu streichen. Auszulöschen, um Anderem, Wichtigerem und Sinnvollerem Platz zu machen.
Meine Liebe ich stresse mich selber, brauche die Hilfe anderer nicht um mich kaputt zu machen. Das bringe ich schampar gut hin.
Ich setzte mich mit den Fragen auseinander. Die Hoffnung stirbt am Schluss. Ich habe die Hoffnung, finde ich für mich eine passable Antwort, löse ich mein Kopfproblem. Perfekt, gäll?
Seit mein Mami gestorben ist, höre ich oft: «Eine Mutter bleibt eine Mutter, ein Leben lang, und du wirst sie immer vermissen. Doch ein Kind zu verlieren ist schlimmer, schwerer. Das können Eltern nie überwinden. Damit Leben, ja, damit fertig werden, nein.» Toll. Da kann ich nicht gut antworten: «Für jede Familie ist ein Kindsverlust eine Katastrophe. Klar. Überwinden und damit Leben klappt mit der Zeit. Ist eine Einstellungssache. Wie vieles auf der Welt.»
Oh Gott, meine Schöne, die wären entsetzt, alle. Ich sage dir, ich tue es. Ich vergleiche beides miteinander. Ich kann es, ich bin qualifiziert für den Vergleich. Brauchst gar nicht erst deinen hübschen Kopf zu schütteln. Denke nur, die hat einen Flick ab, das gestatte ich dir.
Weisst du, schnell lernte ich, mit unserer familiären Katastrophe umzugehen. Sie zu akzeptieren, was blieb mir anderes übrig? Ich konnte frei entscheiden, ob ich in Zukunft ein trauriges, verbittertes Leben führen soll. Oder ob ich alles drum gebe und meine, unsere Zukunft voller Liebe, Licht und Sonnenschein wird – trotz oder gerade wegen des Todes unseres Kindes. Liebe Christine, du weisst, nicht ein einziges Mal kam mir der Gedanke: «Hätte ich die anderen beiden nicht, dann würde …» oder «Ich lebe nur noch für meine Kinder …»
«Stirbt dein Kind, stirbt deine Zukunft» heissts und weiter «Stirbt deine Mutter, ist es der Lauf des Lebens», denken viele. Ich sag dir, meine Zukunft ist für einen Augenblick stillgestanden. Beim Tod unseres Kleinen. Ein kurzes Mich-gehen-Lassen, das musste sein, danach habe ich mich aufgerappelt, um meine, unsere Zukunft neu zu gestalten. Soll ich dir was verraten? Dass Fabien nicht bei uns ist, nicht leben durfte, das stimmt für mich. Ich komme gut zurecht. Womit ich Probleme habe ist, nichts Materielles, nichts Fassbares von ihm zu haben.
Der Tod meiner Mutter der wirft mich zum zweiten Mal in meinem Leben aus der Bahn. Es ist unbeschreiblich für mich, dir zu schreiben, wie schlimm es ist. Der Gedanke, der Kleine und seine Grossmutter sind zusammen, wo immer sie sein mögen, hilft mir nicht. Im Gegenteil. Ich fange an zu zweifeln, ob ich mir all das nicht schönrede. Einrede, weil ich es glauben will.
Mir fehlt mein Mami ungeheuerlich. Für (fast) alle geht der Alltag weiter. Normal weiter. Für mich irgendwie auch. Mit Ausnahmen. Jeden Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, jahrelang rief meine Mutter mich an. Wie oft habe ich meine Augen verdreht, nahm das Telefon ab. Wie oft war ich genervt, ob der Frage: «Wie geht es dir?» Ich denke, wie soll es mir gehen, ist nichts passiert seit gestern, sage «gut, und dir?» MaBelle, ich vermisse diese tägliche Anrufe schampar. Die Stimme, die mich lieb fragt: «Christel, bist fertig mit waschen und putzen?» Nun ist meine Mutter tot, gestorben, stillgeworden. Das Telefon schellt nie mehr und am anderen Ende höre ich nie mehr ihre Stimme. Unvorstellbar.
Ist es nicht egal, wie alt die Kinder sind? Kinder bleiben Kinder. Ein Leben lang.
Ach, meine Liebe, die Frage: «Ist es dasselbe, ein Kind oder seine Mutter zu verlieren?» schwirrt mir noch im Kopf rum. Ich kenne die Antwort, meine Antwort und bin überzeugt, viele sind entsetzt, wenn nicht schockiert von mir. Du, meine beste Freundin, eher nicht, wir kennen uns zu gut.
Der Tod von Fabien war eine Katastrophe. Heute, Jahrzehnte später, gibt es sehr schwierige Tage, da schaff ich es schwer, damit umzugehen. Zum Glück sind solche Tage selten geworden. Obwohl der Tod meiner Mutter keine Katastrophe für mich ist, komme ich schlecht damit zurecht. Mit Fabien ging es besser.
Das Gute ist, niemandem kommt der Gedanke, so eine Frage zu stellen. Weil für alle klar ist: «Stirbt ein Kind, ist das eine Katastrophe. Stirbt ein Elternteil ist es der Lauf der Zeit.»
Wenn du nicht mehr spürst, wie traurig du bist, kannst du auch nicht mehr spüren, wie glücklich du bist.
So sei es. Lassen wir die Zeit laufen.
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