Tagebuch

Nach Fabiens Tod zogen wir zwei Schattenkinder gross.

  • Am Boden hockend, ein Bild in der Hand, und schwupps bin ich im Sommer 1995. Da steht ein strahlendes, überglückliches kleines Mädchen inmitten blühender Blumen. Die Hände in der Luft und schreit: «Ich habe einen Bruder. Fabien. Und ich bin seine grosse Schwester.»

Zwei Monate später steht dieses Mädchen an der gleichen Stelle. Lächelnd. Die Augen gucken traurig. Die Blumen sind verblüht. Vor neun Tagen ist Fabien, ihr heissgeliebter Bruder, gestorben. Stillgeworden. Und sie hat ihn entdeckt – als erste. Vor drei Tagen war die Trauerfeier. Und heute? Heute ist Samstag. Es ist Herbstanfang und ihr vierter Geburtstag.

MaBelle, ich muss dir kaum sagen, wie schwer diese Zeit war. Für sie. Schattenkinder waren unsere Kinder. Leider. Wir waren in unserem Schmerz gefangen. Sahen die Trauer unserer beiden Grossen nicht. Wir wussten schlichtweg nicht, wie damit umgehen. Die zwei wurden irgendwie vergessen in dieser Katastrophe. Weisst du, bei den Grosseltern, Tanten, Onkeln, Freunden, Bekannten bekamen sie (fast) keine Aufmerksamkeit in dieser Zeit. Die bekamen wir, und nicht zu knapp.

Es ist ja nur ein Geschwister gestorben. Der kleine Bruder ist tot. Ein Bruder. Das zählt weniger als der Schmerz der Eltern. Die haben schliesslich ihr Kind verloren. Wir vergessen, Geschwister haben eine enge Beziehung. Oft jahrelang. Geschwisterliebe ist meist innig, vertraut. Bleibt lebenslang bestehen. Okay, Ausnahmen gibts. Du und ich, wir wissen das.

Die grosse Trauer, die Verzweiflung der Geschwister wird gerne übersehen. MaBelle, wie lässt sich das verkraften? Ich weiss es nicht. Weisst du, meine Liebe. Ich habe sicher nicht alles richtig gemacht. Waren wir in dieser Zeit psychisch schampar belastet, wir konnten unsere beiden Mädels nicht so auffangen, wie es notwendig gewesen wäre. Vor 23 Jahren gabs diese Hilfe, die es heute zum Glück gibt, nicht.

Unsere Mädels verloren nicht nur ihren kleinen Bruder. Auch die Eltern, die sie einmal hatten. Die Kinder sind doppelte Verlierer. Meine Erstgeborene wurde ab und zu gefragt: «Wie geht es deiner Mami?» Und sie? Keiner hat sie gefragt: «Wie geht es dir. Wie kommst du klar mit dem Tod von deinem Bruder Fabien?»

Im Lebensplan von Kindern ist nicht vorgesehen, dass ihr Geschwister stirbt. Warum die Kinder auf sowas vorbereiten? Machen die wenigsten. Jedes Kind trauert anders. Individuell halt. Das macht die Eltern unsicher, hilflos gegenüber ihren trauernden Kinder.

Nach dieser familiären Katastrophe mussten meine Kinder ihr Leben neu ordnen. Es gab eine Zeit, da war ich panisch vor Angst, ihnen könne was passieren. Oh Gott, liebe Christine. Das Urgefühl, das jede Mutter hat, ging verloren. Ein Beispiel gefällig? Eins deiner Kinder fällt mit dem Velo hin. Nun denkst du zuerst: «Ist nichts passiert». Boah, das fehlt mir. Heute noch. Bei mir gibt es nur schwarz oder weiss. Alles ok. Nichts passiert oder am Sterben nahe. Dazwischen? Existiert nichts.

Tochter Nummer zwei ist hingefallen. Beim Spielen draussen. Saublöd, sag ich dir. Ich bin im Wohnzimmer, hab mich hingelegt. Mir geht es nicht gut. Ich bin im neunten Monat mit unserem jüngsten und schampar angespannt. Die Angst ist da. Es könnte nicht gut gehen. Sie nörgelte eine Zeitlang. Ihr Arm tue so weh. Genervt ging ich mit ihr zum Arzt. Ups. Ellbogen zersplittert. Ich fühlte mich hinterher schlecht als Mutter.

Ein andermal höre ich zwei Tage mit an, wie unserer Tochter das Handgelenk schmerzt. Weisst du, es war nicht geschwollen oder blau. Nein, da sah ich nichts. Dem Frieden zuliebe mache ich einen Termin beim Hausarzt und schicke sie aufs Postauto. Zwei Stunden später klingelt das Telefon. Die Sprechstundenhilfe fragt mich, ob ich meine Tochter abhole. Sie ist beim gipsen. Handgelenk gebrochen. Boa, wie ich mich schämte, als ich sie abholte.

«Es ist meine Trauer. Ich mach, was ich will.» Bekomme ich von unserer Ältesten zu hören. Du weisst ja. Sie verpasste nie eine Gelegenheit, ihren toten Bruder zu erwähnen. Immer und überall erzählte sie von ihm. Ob die Leute es wissen wollten oder nicht. Interessierte sie nicht. Da ist mir aufgefallen, wie die Erwachsenen in solchen Situationen umgehen. Schlecht. Die wenigsten sind auf sie eingegangen. Haben Fragen gestellt.

Wir lassen die Kinder erzählen. Von ihrem toten Bruder. Egal, ob es für uns der richtige Moment ist. Irgendwie müssen sie den Verlust, ihre Trauer verarbeiten. Es gab einige Telefonanrufe von den Lehrern. Ob das stimme? Muss das sein? Das Erzählen von ihrem stillgewordenen Bruder. Ja, es muss sein. Was stellen die sich eigentlich vor? Ich kann den Kindern wohl schwer verbieten, über den Tod von ihrem Bruder zu schwatzen. Besonders nicht der Ältesten. War sie es, die ihren toten, heissgeliebten Bruder entdeckte. Die Mitschüler haben keine Probleme damit. Es sind die Erwachsenen.

Meine Liebe, wie gern möchte ich wissen, ob die Barbies noch verbuddelt sind. Dort auf dem Sitzplatz, wo wir wohnten. Läck mir. Die kleine Schwester half ihr beim Beerdigen all ihrer Barbies. Mit Kreuzchen und Blumen, versteht sich. Als sie fertig waren, hatten wir ein Massengrab mit hunderten Holzkreuzen im Garten.

Wir kennen uns so lang, du weisst selber, wie der Tod von Fabien unsere Erstgeborene verändert hat. Ich hoffe, meine Kinder haben kein beschädigtes Leben. Durch den Tod ihres Bruders und durch mein Verhalten. Mehr als 20 Jahre sind vergangen. Seit der Kleine still wurde. Eine lange Zeit. Sie reden selten von Fabien. Mit Ausnahme an Geburtstag und Todestag.

Meldet sich eins der Kinder nicht wie abgemacht, höre ich tagelang nichts? Boah, meine Liebe. Ich flipp fast aus. Bin nahe an einem Nervenzusammenbruch. «Entschuldigung, Mami» höre ich als Erstes. Immer. Sie wissen haargenau, wie es mir geht. Und doch halten sie sich nicht an die Regeln. Bei den beiden, die ihre eigenen vier Wände haben, ist es kein Problem. Bin ich froh.

Ich verrate dir was. Was (fast) keiner weiss. Drei Wochen alt war unsere Jüngste, als sie ernsthaft krank wurde. Wochen lang im Kispi.  Wir wollten zu ihr, doch ihr Bett war leer. Geputzt, frisch bezogen und abgedeckt. Wartend auf einen kleinen neuen Patienten oder eine Patientin. Läck, was mir da alles durch den Kopf raste. In Sekunden. Kann ich unmöglich beschreiben. Auch heute nicht. Wir fragten eine Schwester, wo unsere Tochter sei – und was macht diese? Zuckt mit der Schulter. Sie wisse es nicht. Es ginge der Kleinen nicht sehr gut. Ich solle mich nicht aufregen.

Nicht aufregen? Keine zwei Jahre ist es her, als unser Büebel starb. Aufhörte zu atmen. Und seine kleine Schwester liegt im Kispi. Alleine atmen schafft sie nicht. Keiner weiss, wo sie ist. Selbstverständlich rege ich mich nicht auf. Ich flippe aus. Und wie. Mein Kerl und Vater wird so was von weiss im Gesicht. Unvorstellbar. Der Albtraum ging 20 Minuten. Sie haben unsere Kleine auf eine andere Station verlegt. Aus Platzgründen. Und vergessen, es mitzuteilen. Na toll. Zum Erholen brauchte ich Tage. Die Leidtragenden in dieser Zeit waren unsere beiden Grossen. Wieder einmal.

«Hast du eine grosse Kiste? Wir spielen was Geiles, Mami.» Klar habe ich. Eine megalange. Mich trifft fast der Schlag, luge ich ins Kinderzimmer. Die Schachtel ausgestattet mit Kissen und Decke. Alle sind verkleidet. Eins steht und spielt den Pfarrer. Zwei sind die Trauernden. Das vierte liegt entspannt in der Kiste. Augen geschlossen in den Händen gebastelte Blumen. Oben am Kopf ein Holzkreuz mit angepapptem Zettel. Name, Geburtsdatum. Pflanzen aus unserem Wohnzimmer runden alles ab.

Tochter Nummer zwei strahlt mich an und fragt: «Willst du mitspielen?»

 

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