Seelen kennen keine Hierarchien. Es gibt nicht bessere oder schlechtere. Seelen sind weder alt noch jung. Sie bergen unendlich viele Einsichten und Erfahrungen – unabhängig der gelebten Zeit.
Meine Liebe, habe ich Spätschicht, nehme ich mir die Zeit für einen Rundgang. Ich gucke in jedes Zimmer unserer Gäste, frage nach, ob alles in Ordnung sei. Ob sie einen Wunsch hätten. Hie und da wechsle ich ein paar Worte und wünsche ihnen eine ruhige Nacht.
Vor Zimmer 315 halte ich kurz inne. Weisst du, da wohnt Herr Schönbächler, er wird palliativ betreut und begleitet. Die Zimmertür ist seit Stunden angelehnt. Ich gucke regelmässig bei ihm rein, gehe an sein Bett, rede mit ihm, berühre ihn. Er ist dem Tod näher als dem Leben. Halb acht, und ich steh vor der Zimmertür 315. Ich spüre Ruhe, Frieden, Stille. Ich halte einen Augenblick inne, bevor ich das Zimmer betrete. Das glaubst du mir nicht, MaBelle, in diesem Augenblick, weiss ich, spüre es, Herr Schönbächler ist gestorben. Stillgeworden.
Ich steh neben seinem Bett. Berühre sanft seine Wangen. Gucke ihn genau an. Lebt er noch? Ich streichle seinen Arm, berühre seine Hände und sage leise: «Herr Schönbächler.» Die Augen bleiben geschlossen, er schläft nicht. Eigentlich müsste ich sein Ableben sofort melden. Was ich nicht tue. Ich gehe zum Fenster, öffne es und lass die Seele ziehen. Nun steh ich erneut an seinem Bett und bete kurz für ihn. Dann melde ich seinen Tod bei meiner Vorgesetzten.
Zu zweit waschen wir Herr Schönbächler und kleiden ihn ein. «Sunntigen» ihn. Boah, was mir dabei alles durch den Kopf trooled. Das glaubst du kaum. Ich bin überzeugt: Seelen kennen keine Hierarchien, es gibt nicht bessere oder schlechtere. Ein 95-jähriger Mensch ist qualitativ nicht besser als ein 18-jähriger. Ich denke, eine alte Seele ist nicht höher zu bewerten als eine junge Seele. Aber, geht es auf der Erde um Leben oder Tod, wird da nicht etwa bewertet?
Ist eine Entscheidung notwendig, wird da nicht bei der Rettung schon mal dem jüngeren Leben den Vorzug gegeben? Oder bei einem lebensbedrohenden Geburtsverlauf wird meist die Rettung der Mutter als wichtiger angesehen als die des ungeborenen Kindes. Viele meinen, die Mutter könne ein weiteres Kind bekommen. Das, meine Schöne, ist weltliche Ethik unter Entscheidungsdruck. Für eine Seele ist ein kurzes Leben ebenso wertvoll wie ein lang gelebtes Leben. Die Zeit ist nicht das relevante Kriterium. Gesammelte Einsichten und Erfahrungen bereichern eine Seele – unabhängig der Dauer eines Lebens.
Das Licht ist gedämpft in Zimmer 315. Der stillgewordene Herr Schönbächler liegt frisch gekämmt in seinem Bett. Die Hände gefaltet über dem schönen Sonntagsgwand. Eine friedliche Stimmung.
Keine Kommentare