Lachen&Weinen

Meine Trauer. Meine Regeln.

Madlen war krank. Die letzten gemeinsamen Lebensmonate meiner Mutter hielt ich in einigen Texten fest. Ihre Krankheit wollte sie nicht wahrhaben. Nun, ihre Raucherbeine konnte Madlen nicht weglisme. Der Gang zum Arzt war nicht vorgesehen.

 

Ma Belle, meine Liebe, es ist August 2016. Ich sitze auf dem Balkon. Bei meinen Eltern. Es ist heiss. Schwül. Diese schwüle Luft setzt mir zu. Ich guck mich um. Wunderschöne Geranien, Margeriten, Tagetes blühen in den Kisten. Von der Decke hängen die Efeuranken fast bis zum Balkongeländer. In der Ecke steht eine traumhafte pinke Hortensie. Madlen übertrifft sich jedes Jahr selbst mit ihren Blumen, denke ich. Madlen und ich, ihre Jüngste, wir trinken Kaffee und schwatzen über Gott und die Welt.

Mir wird bewusst, sie wird vergesslich. Ich höre Dinge, die hat sie mir am Telefon erzählt. Oje. Was ich mir bis jetzt nie vorstellen konnte, wollte, ist eingetroffen. Oje, meine Liebe. Madlen ist vergesslich und alt. Ich guck sie an, in aller Ruhe. Gealtert ist sie. Und wie. Vor mir sitzt eine Frau, 74 Jahre alt. Und sieht viel älter aus. In einem Sommerkleid. Sommerkleid? Wann habe ich meine Mutter zum letzten Mal in einem Kleid gesehen? Keine Ahnung. Muss Jahre her sein. Ich glaube, du hast sie nie mit Jupe oder Kleid gesehen. Heut trägt sie ein luftiges dunkles Sommerkleid mit vielen kleinen Blümchen. In rosa, weiss und mint. Passend zu ihren Blumen. Passend auf ihren Balkon. Hübsch sieht es aus.

Hübsch und zufrieden sieht Madlen aus.

Früher zog sie oft kurze Jupes an. Weisst du, so enge, kurze Minis, die lang genug waren, um in die Kirche zu gehen. Überlege ich mir das genauer – eigentlich nur. Selten Hosen. Sie konnte sie gut tragen. Meine Mutter war eine schöne Frau. Blond. Blaue Augen. Schlank. Sympathisch.

Und stets am lismen. In schlechten Zeiten – für mich – strickte sie bunte Jacken. Pullis mit kompliziertem Muster. Strumpfhosen. Rote Wandersocken mit Zopfmuster. Der Supergau? Gestrickte Unterhosen. Wer diese nicht mehr kennt, verpasst nichts. Läck, war das peinlich. Kein Rock ohne darunter glismeti Unterhosen. « Stinä, ohne diese bekommst du eine Blasenentzündung. Wird angezogen.» Sie war die einzige, die meinen Namen so verhunzte. Gottseidank.  Selbstverständlich musste ich die grässlichen Unterhosen auch zur Schule anziehen. Madlen strickte für meine fünf Cousinen und mich die gleichen Jäggli. Grundfarbe Dunkelblau. Mit roten, gelben, grünen, weissen Streifen. In Rippen gestrickt. Dabei wissen alle, gestrickte Rippen machen optisch dick. Wir sahen alle breiter aus als wir waren. Oh Gott. Jahrelang wanderten die Jacken von einem Girl zum anderen. Weisst du, liebe Christine, die hatten ein langes Leben. Die Jäggli. Ein Loch im Ärmel? Kein Problem. Madlen stopfte das Loch. Seit da hasse ich blau.

Den Vogel schoss Madlen ab, als sie voller Stolz meinem Bruder und mir glismete Hosen mit passendem Pulli strickte. Die Hosen mit einer Bügelfalte in der Mitte. Ma Belle, das musst du dir bildlich vorstellen. Läck mir. Sie voller Stolz. Mir schampar peinlich. Allein die Farbe. Knallrot. Mein Bruder hatte da mehr Glück. Er bekam hellbraun. Und als ob das nicht genug wäre, gibt es noch ein Bild von uns. Ein Erinnerungsfoto. Logisch. Muss ja sein. Damit die Nachkommen sich zu Tode lachen.

Kommen Besucher, und ich sitze am Küchentisch, bin am lismen, wissen sie gleich: Christine hat was angestellt. Was ausgefressen. Boah, Stress total. Muss ich lismen. Selten lasse ich mir das anmerken. Ich strahle übers ganze Gesicht. Weil? Das nervt meine Mutter. Mein «Das ist mir scheissegal»-Gesicht. Ich muss grinsen, denke ich an die vielen Pfannenplätze, die Madlen von mir bekam. So viele braucht keine Mutter. Nie im Leben.

Meine Augen bleiben an ihren Beinen hängen. Ich sehe da lauter dunkle Venen, die dick hervorquellen. Und sie höcklet seelenruhig da und zieht sich eine Zigarette rein. Ich bin entsetzt. «Hast du keine Schmerzen? Mit solchen Beinen?» «Ja. die tun mir weh. Diese Schmerzen ewigs.» Ich frag sie: «Warum um Himmels Willen gehst du nicht zu einem Arzt?» Und weiss die Antwort längst. Achselzucken und: «Ich will nicht. Gehe schon. Irgendwann.» Ist alles, was sie sagt. Toll. Irgendwann. «Soll ich dich begleiten? Du musst unbedingt zum Arzt. Was, wenn es Raucherbeine sind?» Erneut Achselzucken und «Ich rauch halt gern.».  Damit ist es erledigt. Demonstrativ zündet Madlen eine weitere Zigi an.

 

Madlen hat Geburtstag. Wie ich die Geburtstagsfeier am 28. 01.17 überstehe, lest ihr im nächsten Text

 

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