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Auszug aus dem «Albergo Mama»

Bub mit blauer Wolke.

Liebe Mam

Heute würde ich 22 Jahre alt. Eine Schnapszahl. In diesem Alter ist ein Kind endgültig erwachsen. Viele verlassen dann das «Albergo Mama».

Ich verliess es früher, dieses irdische Leben. Nach nur 63 Tagen. In deiner Zeitrechnung eine äusserst kurze Zeit. Wir konnten uns kaum geniessen. Ich weiss gar nicht mehr, ob ich schon abgestillt war. Ist lang her, gäll Mam.

Ihr wart alle furchtbar traurig. Besonders du. Lange Jahre konntest du es kaum verwinden, dass ich nicht länger bei euch bleiben wollte, bleiben konnte, bleiben durfte. Wie auch immer. Der 14. September 1995 wird für dich immer ein trauriger Tag bleiben. Das kann ich nicht ändern.

Überhaupt: Nichts kann ich ändern. Aber ich habe dir etwas zu sagen. Du machst es verdammt gut mit deiner Trauer. Das muss und will ich hier in aller Deutlichkeit betonen. Du hast viel geweint. Hadertest mit deinem Schicksal. Du betetest in der Kirche und zu Hause. Wie so vieles machtest du das sehr konsequent. Radikal.

Dann begannst du dich zu engagieren. Wolltest anderen helfen, ein ähnliches Schicksal zu bewältigen. Ein gutgemeinter Schachzug. Den anderen beistehen und dabei wachsen. Gelassener werden, geduldig und demütig.

Dein Engagement ging nach allen Seiten los. Leider ebenfalls nach hinten. Um mit deinen Worten zu reden, es war auch für den Arsch. Sorry, aber es stimmt doch. Wie viele unwissende Zeitgenossen prügelten auf dich ein. Du konntest tun und lassen wie du wolltest, es war falsch. Du klicktest dich durchs Internet und tratest irgendwelchen Gruppen bei. Du leistestest viele freiwillige Stunden Arbeit für die Sternenkinder, für ihre Mütter, ihre Väter, ihre Geschwister. Und was war der Lohn? Du wurdest angefiggt, ausgeschimpft und beleidigt. Das tat mir weh. Am liebsten hätte ich heruntergerufen: Liebe Christine, was störts dich, du stolze Eiche, wenn sich die Borstenviecher dran reiben. Lass sie reden!

Mam, lass sie bellen, die Hunde und ziehe mit deiner Karawane weiter. Die Karawane ist deine Familie, deine wahren Freunde, Freundinnen. Zieh weiter. In ein anderes Tal. An einen anderen See, einen Fluss. Irgendwo. Zieh weiter.

Weisst du, ich spürte schon vor einiger Zeit, dass du mich langsam loslässt. Vielleicht begann es an diesem heissen Sommertag auf dem Friedhof Freienbach. Damals, als der schnauzbärtige Fotograf in der gleissenden Sonne viele Bilder schoss und der Journalist mit seinem Hund dich mit dem Aufheller blendete. All das machten sie für ein schönes Foto von uns zwei. Klar hätte ich Beziehungen gehabt, um eine schattige Wolke vorbeizuschicken. Aber ich blendete dich gerne. Gut möglich, dass ich dir in diesem Moment etwas die Augen öffnete.

Geklatscht habe ich, als du einige Zeit später frech meinen Grabstein ausgrubst und mit nach Hause nahmst. Dass die Gemeinde dann motzte, störte dich nicht. Mam, ich applaudierte.

Ich liess dann meine Beziehungen spielen. Und so kam es, dass der strenge Winter, der viele Regen und anderen Unwägbarkeiten diesen roten Stein aus der Sihl kaputt machten. Also, weg mit den Bruchstücken.

Du hast mein Bitten erhört und letzthin die verbliebenen Steine in die Sihl geschmissen. Hast mich in die Sihl geschmissen. Bravo. Aber wie es so ist im Einsiedlertal, hat dich jemand dabei gesehen und möglicherweise das Maul verrissen.

Lass sie reden und tuscheln liebe Christine. MaBelle, wie du so schön schreibst. Lass sie die Köpfe zusammenstecken. Lass sie mit dem Finger auf dich zeigen. Eine, wie du bist, darf das nicht stören. Verlass alle offenen und geschlossenen Trauergruppen. Leg die freiwilligen Ämter nieder. Kehr den Ewiggestrigen den Rücken. Schau vorwärts. Sei nahe bei deiner Familie, bei deinen Kindern, und sei nahe bei dir.

Was ich noch sagen wollte, ich verziehe mich nun. Ab auf eine neue, auf eine unbekannte Wolke. Auf dich und auf mich warten neue Aufgaben. Danke, dass du so lange bei mir warst.

Sei umarmt, liebe Mam. Herze alle, die mir lieb sind. Und noch etwas Überraschendes: Ich schick dir einen Grizzlybärendrücker nach Frankreich. Cool, gäll.

Herzlich, dein mittlerweile grosser Prinz. 

Signatur_Fabien

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1 Kommentar

  • Catherine

    Liebe Christine,
    ich habe den Text «Auszug aus dem Albergo Mama» gelesen. Musste mehrmals eine Atempause mit Hühnerhaut einlegen. Welche «Stimme» dir diesen Text auch geschickt hat, hat in allem … IN ALLEM recht!

    Viele Menschen sehen und hören was und donnern gleich los. Leider ohne nachzudenken. Wir trauernde Mütter ticken anders. Und jede tickt dann gleich nochmals anders, auf ihre Art und Weise. Da wirds gleich kompliziert. Wer dieses Verhalten nicht versteht, soll zuerst auf 20 zählen, bevor er unbedacht verletzende Worte an die betroffene Person richtet. Denn diese können wie Pfeile in die schon offene Wunde sein.

    Ich persönlich erwarte von niemandem, dass er mich, geschweige mein Verhalten, versteht. Doch was ich in unserem zivilisierten Umfeld verlange, ist Respekt! Und deswegen, liebe Christine, Hut ab, was deine konsequenten Reaktionen betrifft. Du bist ehrlich und dir treu. Und dies ist in meinen Augen das Wichtigste. Bleibe so wie du bist!
    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft, Durchsetzungswillen, Mut, Gesundheit, Freude in allem was du tust. Schöne und unvergessliche Momente «en famille» etc…
    Liäbi Grüäss
    Catherine

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