Lachen&Weinen

Brav und angepasst versus glücklich und anstrengend

Das sind tolle Momente, wenn ich bei einem Klassenfoto nur mein Kind angucke und denke: «Ja, das gefällt mir.»

 

MaBelle, meine Liebe. Ich freu mich. Unsere Zweitälteste kommt zu Besuch. Das wird ein schöner Tag. Ab und an sind ihre Besuche es bitzeli anstrengend. Du kennst sie und weisst, wie sie ist.

Unsere Tochter, ein Träumerli und hyperaktiv. Ein Mischtyp halt. Verträumt, emotional, empfindlich. Ein andermal ein Wirbelwind mit einer hohen Bewegungslust und einem Hang zum Ausrasten. Da wars nicht ungewöhnlich, wenn die Blockflöte um den Kopf der Kindergärtnerin geflogen ist. Liebe Christine, du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich in der Schule antraben musste, um anzuhören, was meine Tochter angestellt hatte. Soll ich dir sagen, was mich am meisten erstaunte? Kindergärtnerin, Lehrer, Lehrerinnen, Pater, Schulverwaltung, alle zeigten Verständnis für sie. Das erleichterte vieles. Damals wie heute bin ich allen dankbar, wie sie sich verhalten hatten. Michèle genoss trotz ADHS eine schöne, in einem gewissen Rahmen normale Schulzeit.

Oft sass sie da und träumte vor sich hin. Nun gut, ab und an stand sie auf, lief im Schulzimmer rum. Lenkte ihre Mitschüler permanent ab. Weisst du, oft vergass sie, die Hausaufgaben ins Heft einzutragen. Keins meiner Kinder hatte in der Schulzeit so wenig Hausaufgaben wie sie. Und keins genauso viele Strafaufgaben. Nur? Strafaufgaben bringen einem ADHS-Kind nichts.

An wichtige Dinge des alltäglichen Lebens zu denken? Uff. Schwer umsetzbar. Woche für Woche brachte sie die Sporttasche heim. Sie vergass sie nirgends. Nur war sie nicht mehr so gefüllt, wie Michèle sie mit ins Turnen genommen hatte. Mal hatte sie was vergessen, verloren oder sie brachte etwas Neues nach Hause. Etwas Neues, das ein anderes Kind vermisste. Läck, meine Liebe. Das war nicht lustig. Im Gegenteil.

Und stets die Telefone der Lehrer. Boah. Da hörte ich: «Michèle kann nicht ruhig sitzen. Sie zappelt mit Händen und Füssen. Gaagelet mit dem Stuhl. Redet wie ein Wasserfall. Ohne Komma und Punkt.»

Ein andermal hiess es: «Ihre Tochter ist hochbegabt. Umsetzen lässt sich das mit Medikamenten. Mit Ritalin. Sie müssen überlegen, was sie ihrer Tochter Gutes tun wollen. Kind sein, ohne Ritalin, ihren Weg machen lassen. Oder mit Ritalin. Angepasst und mit guten Schulnoten.» Der, der das sagte, war ein Arzt. So eine Entscheidung ist schwer für Eltern. Mit Ritalin eine sehr gute Schülerin. Könnte die Matur machen, sofern sie will. Ohne? Keine Matur, dafür bleibt sie sich selbst.

Und so fällten wir einen Entscheid: für Ritalin. Das aber nur für eine kurze Zeit. Wir wollten wissen, wie unsere Tochter damit umgeht. Ob und wie sie klarkommt. Wir fragten uns: Würde das Ritalin unsere Tochter verändern? Drei Monate später. Ich fragte in der Familie, bei der Lehrerin und bei Freunden nach. Ich wollte wissen: Ist Michèle in letzter Zeit anders als sonst? Halte dich fest, liebe Christine. Das bekam ich zu hören: Michèle ist still, ruhig, nicht mehr so fröhlich … Ihre beste Freundin meinte: «Das isch nümm mini Michi. Sie hät sich eso verändert. Ich wett die alt Michi zrugg.» Boah, so was haut dich um. Ich erfüllte der besten Freundin den Wunsch.

Weisst du, meine Schöne. Stressmomente hast du viel mehr als bei nicht betroffenen Kindern. Anziehen, Schulweg, Hausaufgaben, Ämtli erledigen geben mehr Anlass zu Diskussionen, es braucht Verhandlungen. Kompromisse sind nötig.

Meine Liebe, bei einem kleinen oder grossen Wirbelwind bist du ständig Polizistin. Musst auf der Hut sein, Mahnungen aussprechen und klar die Grenzen aufzeigen. Hast du ein Träumerchen, musst du es stets antreiben, damit es nicht zu spät kommt, damit es die Aufgaben erledigt und nicht allzu sehr trödelt. Wie ein Feldwebel musst du einen kleinen Soldaten, eine kleine Soldatin herumkommandieren. Anders geht es nicht.

Wollte ich einkaufen, standen alle parat im Hauseingang, ausser … ? Genau, unser Träumerchen fehlte. Sie sah nie einen Sinn darin, sich zu beeilen. Sie trödelte, spielte mit dem Tschuttiball, der in der Ecke auf den befreienden Tritt wartete. Sekunden später schrie eins der Goofen. Der Ball knallte mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Weisst du, oft war ich, bevor die Kinder zur Schule gingen, schon auf 180. Und die Kleine hört einen Wortschwall voller Kritik.

Not machte mich erfinderisch. Ich fing an, den Kaffee gemütlich zu trinken. Kam Michèle nicht pünktlich zum Zmorgen, nahm sie ihr Butterbrot mit und genoss ihr Frühstück auf dem Schulweg. Gesund hin oder her.

Kennst du das? Die Kinder bringen Klassenbilder heim. Schnell suchst du dein Kind, willst wissen, wie es aussieht. Alle stehen anständig da, lächeln in die Kamera. Nur eine nicht, unser Träumerli. Ein Jahr guckte sie in die Luft, sah den Vögeln zu. Ein ander mal stand sie zu vorderst, halbpatzig angezogen. Ihre knallrote Brille sass schräg auf der Nase. Auf einem anderen Bild hing sie kopfvoran über dem Gartenzaun. Gucke ich meine Tochter auf den Bildern an, weiss ich: Wir haben alles richtig gemacht. Mit Ritalin wäre sie anständig neben ihren Gspändli gestanden. Wohl kaum hätte sie dabei glücklich ausgesehen.

In der Oberstufe, verlor ihr Lehrer kurzfristig den Überblick. Er vergass zu vermerken, was Träumerli vergessen hatte. Er hinkte mit dem Eintragen hinterher. Die Striche für nicht-erledigte Aufgaben oder vergessene Dinge nahmen kein Ende. Eine Zeitlang nahmen sie gar überhand und meine Tochter musste jede Woche drei Stunden nach der Schule beim Abwart helfen. Gottseidank schafften wir es, für sie mit der Schule einen Deal zu vereinbaren.

Übrigens, meine Liebe. Michèle arbeitet schon lange nicht mehr als Bäckerin. Sie macht eine Umschulung. Und hat nächstens ihr Lehrerdiplom im Sack.

Das Schönste, was unsere Tochter zu uns sagt: «Mami, du und Papi, ihr habt alles richtig gemacht. Ihr habt richtig entschieden bei mir. Ich hatte es nicht immer leicht, oft war es schwer – und schwer ist es oft heute noch.

 

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